Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern
Ich wurde am 12. Dezember 1939 in Wilna geboren. Damals hieß ich Masza Fajnstein
Meine Eltern Chana und Jakub Fajnsztejn wohnten zusammen mit den Großeltern in der Zawalna-Straße 15. Papa hatte ein Jura-Studium an der Wilnaer Bathory-Universität abgeschlossen und betrieb zusammen mit Großvater eine Anwaltskanzlei. Als ich zwei Wochen alt war, kam eine Niania, eine Kinderfrau, in unser Haus, die 36-jährige Polin Stanisława Butkiewicz. Zwei wunderbare Jahre lang sorgte sie für mich. Dann kamen 1941 die Deutschen nach Wilna. Sie richteten ein Ghetto ein, wohin ich mit meiner Familie samt engerer und weiterer Verwandschaft kam. Ich wurde krank und befand mich bald in einem entsetzlichen Zustand: anämisch, erschöpft und grindig. Meinen Eltern war klar, dass ich das Ghetto nicht überleben würde. In einer Kolonne von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, die zur Arbeit außerhalb des Ghettos geführt wurden, ging meine Mutter mit mir aus dem Ghetto und übergab mich an verabredeter Stelle meiner Kinderfrau, die sich bereit erklärt hatte, mich zu sich zu nehmen. In der Eile konnte meine Mutter nicht mehr sagen als: „Stasiu, ich gebe sie Dir. Wenn ich überlebe, gibst Du sie mir wieder. Wenn nicht, dann kannst Du sie taufen lassen und wie Deine eigene Tochter erziehen.“ Ich wusste, dass meine Eltern nicht mehr lebten. Die Niania wollte mit mir über sie reden, aber ich wollte nicht. Der Verlust war für mich zu schmerzlich. Ich stellte mir ein Treffen mit ihnen vor. In meinen Wunschträumen gingen meine Eltern Arm in Arm eine Allee entlang und ich lief ihnen entgegen und fiel ihnen um den Hals. Ich wollte so gern eine Familie haben und beneidete die anderen Mädchen um ihre Tanten, Onkel und Großeltern. An den Feiertagen saßen wir nur zu zweit am Tisch.
Man brachte mir bei, dass ich jetzt Marysia Butkiewicz hieß. Ich konnte mich richtig bekreuzigen und beten
Das Wilnaer Ghetto wurde 1943 aufgelöst. Meine Niania, die überzeugt war, dass meine ganze Familie umgekommen sei, ließ mich als ihr Kind taufen. Sie versteckte sich mit mir bei ihren Brüdern in Wilna, aber bald darauf begannen die Nachbarn, sich für mich zu interessieren und die Kinderfrau zog mit mir zu ihrem Vetter, der abseits in einem kleinen Haus in Niemenczyno wohnte. Dort hielten wir uns in einem Erdloch im Wald bis zum Kriegsende versteckt. Wenn die Niania ins Dorf zum Spinnen ging, wurde ich ins Haus geholt und spielte in einer Ecke. Kam überraschend Besuch, musste ich mich im Keller verstecken. Einmal wurde ich in der Hast sogar hinuntergeworfen. Ich stieß mich furchtbar, aber ich wusste ja, dass ich keinen Mucks von mir geben durfte. Ein anderes Mal, als der Gendarm ins Haus kam, wurde ich Hals über Kopf unter dem Deckbett versteckt. Ich bekam einen Schock, wurde ohnmächtig und verlor für mehrere Tage meine Stimme. Ich hatte die ganze Zeit über Angst, ich wusste, dass ich nicht die Wahrheit sagen durfte. Sollte ich gefragt werden, ob ich Jüdin sei, sollte ich das verneinen, niederknien, ein Gebet und die Lauretanische Litanei sprechen. Nach Kriegsende machten wir uns 1946 auf den Weg nach Polen und kamen nach Węgorzewo bei Olsztyn [Angerburg bei Allenstein]. Dort zogen wir in ein Haus am Stadtrand. Ein paar Tage lang verpflegte uns das Staatliche Repatriationsamt, dann mussten wir selbst zurechtkommen. Die Niania verkaufte den Pelz meiner Mutter sowie zwei Stoffcoupons und kaufte dafür eine Kuh, die abgemagert und vernachlässigt war. Wir fütterten sie wieder auf, pflegten sie liebevoll, und sie gab uns täglich 30 Liter Milch. Die Milch verkauften wir und von dem Erlös lebten wir. Diese Kuh war viele Jahre lang unsere Ernährerin. Um jene Zeit – 1947 – erschienen in unserer Gegend Männer, die nach jüdischen Kindern suchten. Die Niania sagte ihnen, dass sie mich nicht abgeben werde. Ich hing sehr an ihr; an meine Eltern erinnerte ich mich nicht und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mich von ihr trennen sollte. Sie war die einzige mir nahe stehende Person auf der Welt, die ich hatte. Ohne sie konnte ich nicht bestehen. Ich verzichtete auf ein Studium, obwohl ich die beste Schülerin in meiner Schule war. Ich ging zur Arbeit und verdiente für unseren Lebensunterhalt. Für mein erstes Gehalt kaufte ich meiner Niania Kleiderstoff, den sie stolz allen Nachbarn zeigte. Ich habe zu meiner Kinderfrau immer nur Niania gesagt, nie Mama oder Mutter. Als ich älter war, wollte ich das tun, aber ich konnte mich nicht überwinden. Ich war sehr schüchtern und schämte mich. Ich wusste damals nicht, dass sie darauf wartete – sie selbst hat es mir aber nie gesagt. Als ich heiratete und mein Sohn auf die Welt kam, wurde aus Niania – Babcia, d.h. Großmutter – und so hieß sie seitdem bei allen. Wir blieben bis zu ihrem Tod zusammen und sie half mir, meine Kinder zu erziehen. Ihre Enkel haben sie verehrt.
Maria Kowalska
schloss das Allgemeinbildende Gymnasium in Węgorzewo ab und arbeitete als Hauptbuchhalterin in den Renovierungs- und Baubetrieben in Zielona Góra [Grünberg in Schlesien]. Sie ist die Hauptperson im Dokumentarfilm „Zum zweiten Mal geboren“. Sie gehört der Gesellschaft „Kinder des Holocaust“ in Polen an. Sie hat drei Kinder und sechs Enkelkinder.
Eltern
Stanisława
Butkiewicz
(1903–1990)
Obwohl ich nicht Mama zu ihr sagte, war sie für mich doch die beste Mutter. Wir waren 51 Jahre beisammen.

Gerechte unter den Völkern.
Chana Fajnsztejn
z d. Zusmanowicz
(1914–1943)
Meine Mutter befand sich zusammen mit ihren Geschwistern in einem Transport ins Lager Stutthof. Am 23. September 1943 sprang sie aus dem Waggon, weil, wie sie sagte, ihre kleine Tochter auf sie warten würde. Sie wurde auf der Flucht erschossen.
Jakub
Fajnsztejn
(1908–1941)
Er wurde von den Deutschen in Ponary ermordet.